Vom Umgang mit Sorgen und Ängsten
„Wir müssen die Menschen mitnehmen, ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen!“ So oder so ähnlich äußern sich vermehrt Politiker der regierenden Koalitionsparteien, also der Parteien, die die aktuellen politischen Ereignisse und Pläne „machen“ und zu verantworten haben.
Was also, frage ich mich, sollen diese an das Wahlvolk, demnach auch an mich gerichteten Worte, mir sagen, was sollen sie bei mir bewirken?
Als Erstes frage ich mich: Wer ist „wir“? Eine einzelne Person, eine Politikerin oder ein Politiker, sagt „wir“. Es wird sich doch wohl nicht um den Pluralis Majestatis handeln, den in längst vergangenen feudalen Zeiten die Kaiser und Könige benutzten, wenn sie von sich selber sprachen? Etwa so: „Wir, Konig Ludwig von Bayern, geruhen zu verkünden…“? Vielleicht eher nicht. Wer oder was könnte denn ansonsten gemeint sein? Wir, die demokratisch gewählten Politiker? Wir, die Koalitionsregierung? Wir von der CDU (wahlweise CSU, SPD, je nach dem wer sich gerade äußert)? Wer sonst noch könnte mit „wir“ gemeint sein? Ist des Rätsels Lösung vielleicht aus dem Zusammenhang des Textes zu entnehmen? Nein, auch das nicht. Das „wir“ ist nicht zu deuten, es bleibt ungewiss, es verunsichert.
Höre oder lese ich trotz der vernebelnden Wirkung des ersten Wortes das zweite, „müssen“, kommt ein weiteres Stück Verwirrung hinzu. Müssen im Sinne von „das werden wir auf jeden Fall tun“ oder „wir kümmern uns darum“, letzteres ohne eine zeitliche Begrenzung oder gar einen Erfolg zu versprechen? „Müssen“ hört sich stark an, wie „auf jeden Fall“, oder wie „das ist so sicher wie das Amen in der Kirche“.
Was aber ist wohl wirklich gemeint? Nun ja, weder der Inhalt des Wortes „wir“ noch der des Wortes „müssen“ ist erkennbar oder zu deuten. Logischerweise verliert schon allein deshalb der toll klingende Satz „Wir müssen die Menschen mitnehmen, ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen“ jeglichen Sinn, er gibt sich als leere Satzhülse zu erkennen. Streng genommen wurde also bisher zwar geredet, aber nichts gesagt.
Aber weiter im Text: Wir müssen „die Menschen“… . Alle deutschen Wahlberechtigten? Alle Menschen in Deutschland? Alle in Europa? Alle Menschen? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Fehlt noch das Verb „mitnehnen“. Klar: Mitnehmen im übertragenen Sinn. Aber: Auch dieser Begriff lässt sich auf tausend verschiedene Arten interpretieren. Wie, wodurch, wohin? Wieder eine leere Hülse! Mir fällt auf Anhieb als Parallele für das Verhältnis Politiker – Wähler das Bild von Eltern ein, die ihre Kinder wohin auch immer mitnehmen, damit die Kleinen etwas kennenlernen, was sie bisher nicht kannten. Und: Sind die Menschen, wer immer das genau sein soll, bisher nicht mitgenommen worden? Warum denn jetzt auf einmal? Was könnte denn passieren, wenn sie nun tatsächlich mitgenommen würden, zum Beispiel dadurch, dass man sie in Zukunft offen, umfassend, nachprüfbar korrekt und bevor Entscheidungen bereits gefallen sind, informiert?
Erwartet denn niemand mehr, dass Wähler immer noch einen eigenen Verstand besitzen, und, wer immer sie im Einzelnen sind, zu eigenständigen, durchdachten politischen Urteilen fähig sein könnten?
Warum reden Politiker, die seit vielen Jahren einträchtig das politische Geschehen in Deutschland dominieren, plötzlich so? Haben sie “ die Sorgen und Ängste der Menschen“ bis dato etwa nicht ernst genommen? Könnte es sein, dass die Politiker, denen wir unsere Stimmen gegeben haben, ihrer daraus resultierenden Verantwortung nicht oder nur schlecht gerecht geworden sind? Haben sie ihre eigenen (Wahl-)versprechen nicht gehalten? Haben sie berechtigte Hoffnungen der Bürger nicht erfüllt? Könnte es nicht sein, dass mehr und mehr Menschen realisieren können wie mit ihnen umgegangen wird? Wer schützt die Bevölkerung vor den gesundheitsgefährdenden Abgasen der Dieselmotoren im Straßenverkehr? Hält Deutschland die vereinbarten Klimaschutzziele des Pariser Abkommens ein? Warum erfährt die Öffentlichkeit nichts Konkretes über die Zahl der inländischen Arbeitsplätze und die betroffenen Berufsgruppen, deren Jobs durch die Digitalisierung in der näheren Zukunft verloren gehen werden? Es ist nur zu verständlich, dass immer mehr Menschen zornig und wütend sind. Das Vertrauen in die politische Führung Deutschlands schwindet. Um diesen Prozess aufzuhalten müssten den Bürgern sinnvolle und für jedermann verständliche Informationen über das politsche Geschehen gegeben werden. Dazu dürften die „etablierten Parteien“, da sie zumindest als Mitverursacher anzusehen sind, weder willens noch in der Lage sein.
Bleiben verschiedene Andere. Die wiederum nur als „Populisten“ zu beschimpfen anstatt zumindest auch ernsthaft über das Verhalten der jeweils eigenen Partei nachzudenken, wird keine gute Lösung bringen.
P.S.: Geschrieben im November 2016, zehn Monate vor der Bundestagswahl 2017. kk
Bis jetzt gibt es keine Kommentare
Warum nicht der erste sein?